Breitkomplexe Tachykardie

Einführung

Zwei EKG-Merkmale definieren die breitkomplexe Tachykardie: ein QRS-Komplex >120 ms und eine Herzfrequenz von >100 Schlägen pro Minute.

Patienten mit weitkomplexer Tachykardie können hämodynamisch stabil oder instabil in der Notaufnahme erscheinen. EKG-Algorithmen sowie Kenntnisse über vorbestehende Herzerkrankungen können helfen, ventrikuläre Tachykardien zu erkennen. Symptome sind oft nicht zuverlässig und hilfreich für die Differenzierung des Ursprungs der weitkomplexen Tachykardie.

Die folgenden Beispiele veranschaulichen die Vorgehensweise bei Patienten, die sich mit weitkomplexen Tachykardien in der Notaufnahme vorstellen.

Zwei Patienten mit weitkomplexer Tachykardie in der Notaufnahme

Patient 1: ein 26-jähriger Mann mit Palpitationen seit 3 Stunden. Vitalparameter: Blutdruck 120/70 mm Hg, Sauerstoffsättigung (SpO2) 98 %, Glasgow Coma Scale (GCS) Score 15. Sein EKG ist in Abbildung 1 dargestellt.

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Abbildung 1: 12-Kanal-EKG von Patient 1 bei der Aufnahme in die Notaufnahme mit linksventrikulärer faskulärer Tachykardie.

Patient 2: ein 48-jähriger Mann mit Brustschmerzen seit 40 Minuten. Vitalparameter: Blutdruck 90/40 mm Hg, SpO2 94 %, GCS-Score 12. Sein EKG ist in Abbildung 2 dargestellt.

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Abbildung 2: 12-Kanal-EKG von Patient 2 bei Aufnahme in die Notaufnahme mit ventrikulärer Tachykardie.

Die ersten Fragen sind: Liegt bei dem Patienten eine ventrikuläre Tachykardie vor oder nicht? Handelt es sich bei der weitkomplexen Tachykardie um eine ventrikuläre Tachykardie?

Die Brugada-Kriterien und der Vereckei-Algorithmus sind die am häufigsten verwendeten Diagnosestandards für ventrikuläre Tachykardien. Bei beiden Algorithmen handelt es sich um ein vierstufiges Entscheidungsverfahren, bei dem vier Kriterien für ventrikuläre Tachykardien berücksichtigt werden (Abb. 3). Diese Algorithmen ermöglichen in etwa 90 % der Fälle eine korrekte Identifizierung von Kammertachykardien und sind nicht immer zuverlässig. Die korrekte Analyse des EKGs nimmt jedoch Zeit in Anspruch, wenn eine Kammertachykardie nach dem ersten oder zweiten Schritt nicht offensichtlich ist.

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Abbildung 3: Brugada-Kriterien und Vereckei-Algorithmus zur Identifizierung ventrikulärer Tachykardien (übernommen aus ). A-V = atrio-ventrikulär; BBB = Bündelastblock; FB = Faszikelblock; VT = ventrikuläre Tachykardie.

Ungeachtet der korrekten Identifizierung einer ventrikulären Tachykardie hängt die Frage, wer zuerst behandelt werden muss, aus Sicht des Notarztes von der Stabilität des Patienten ab. Patient 2 war bei der Ankunft in der Notaufnahme instabil. Er wurde sofort in den Schockraum verlegt, wo der ACLS-Algorithmus für stabile/instabile Tachykardien angewandt wurde (Abb. 4, adaptiert von ). Da der Patient unter Hypotonie, verändertem Geisteszustand und ischämischen Brustbeschwerden litt, wurde er gemäß dem Algorithmus sofort einer synchronisierten Kardioversion unterzogen. Am wichtigsten ist die Aufzeichnung eines 12-Kanal-EKGs nach erfolgreicher Kardioversion, das in unserem Fall einen anterioren ST-Strecken-Hebungs-Myokardinfarkt zeigte (Abb. 5A). Der Patient wurde direkt in das Herzkatheterlabor verlegt, wo eine In-Stent-Thrombose der linken anterioren absteigenden Arterie festgestellt und mit einer perkutanen transluminalen Koronarangioplastie und Stenting behandelt wurde. Nach diesem Eingriff blieb er stabil (Abb. 5B).

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Abbildung 4: ACLS-Algorithmus für stabile/instabile Tachykardie: Tachykardie mit einem Puls-Algorithmus. Adaptiert von https://www.acls.net/images/algo-tachycardia.pdf. © für die Originalversion: 2016 ACLS Training Center, https://www.acls.net. Das Originaldokument ist aktuell in Bezug auf die 2015 American Heart Association Guidelines for CPR and ECC. Diese Richtlinien sind aktuell, bis sie im Oktober 2020 ersetzt werden. Wenn Sie diese Seite nach Oktober 2020 lesen, wenden Sie sich bitte an das ACLS Training Center unter [email protected], um ein aktualisiertes Dokument zu erhalten.
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Abbildung 5: A. 12-Kanal-EKG von Patient 2 nach Kardioversion mit anteriorem ST-Strecken-Hebungs-Myokardinfarkt. B. Koronarangiographie mit In-Stent-Thrombose der linken vorderen absteigenden Arterie (weiße Pfeile).

Die Vitalzeichen von Patient 1 blieben während seines Aufenthalts in der Notaufnahme stabil. Bei der detaillierten Analyse des 12-Kanal-EKG (Abb. 1) wurde eine linksventrikuläre faschikuläre Kammertachykardie mit Rechtsschenkelblock und Linksachsenabweichung festgestellt. Wiederum auf der Grundlage des ACLS-Algorithmus für stabile/instabile Tachykardien wurde der Patient aufgrund seiner hämodynamischen Stabilität mit Antiarrhythmika behandelt. Nach intravenöser Gabe von 5 mg Verapamil wandelte sich die ventrikuläre Tachykardie in einen Sinusrhythmus um (Abb. 6).

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Abbildung 6: 12-Kanal-EKG von Patient 1 während der intravenösen Verabreichung von Verapamil, das die Umwandlung einer ventrikulären Tachykardie in einen Sinusrhythmus zeigt.

Wenn sich diese Patienten mit einer pulslosen ventrikulären Tachykardie vorgestellt hätten, hätte eine sofortige kardiopulmonale Reanimation gemäß den üblichen ACLS- oder ERC-Leitlinien (European Resuscitation Council) eingeleitet werden müssen. Da ventrikuläre Tachykardien und Kammerflimmern als Folge einer Verschlechterung ventrikulärer Tachykardien schockbare Rhythmen sind, muss eine frühzeitige Defibrillation versucht werden.

Weitkomplexe Tachykardie: allgemeine Überlegungen und Differentialdiagnose

Eine weitkomplexe Tachykardie kann ventrikulären oder supraventrikulären Ursprungs sein und einen regelmäßigen oder unregelmäßigen QRS-Komplex aufweisen (Tabelle 1). Die Brugada-Kriterien und der Vereckei-Algorithmus oder der vereinfachte avR-Algorithmus sind hilfreich, um ventrikuläre Tachykardien korrekt zu identifizieren. Dennoch bleiben 10 % der Fälle fehldiagnostiziert.

Tabelle 1: Weitkomplexe Tachykardie.
Regulärer QRS-Komplex
Monomorphe ventrikuläre Tachykardie
Origin from LV / LVOT / RV / RVOT
Supraventricular tachycardia
With aberrant conduction in bundle branch block
With aberrant conduction in Wolff-Parkinson-White ­syndrome
Irregular QRS complex
Polymorphic VT, torsades des pointes
Atrial fibrillation with bundle branch block
LV = left ventricle; LVOT = linksventrikulärer Ausflusstrakt; RV = rechter Ventrikel; RVOT = rechtsventrikulärer Ausflusstrakt; VT = ventrikuläre Tachykardie

Neben der ventrikulären Tachykardie umfasst die Differentialdiagnose der weitkomplexen Tachykardie auch die supraventrikuläre Tachykardie mit abweichender Reizleitung aufgrund eines Schenkelblocks oder des Wolff-Parkinson-White-Syndroms, wenn der QRS-Komplex regelmäßig ist. Ist der QRS-Komplex unregelmäßig, müssen polymorphe ventrikuläre Tachykardien wie Torsades des pointes Tachykardien oder Vorhofflimmern mit Schenkelblock in Betracht gezogen werden.

Da ventrikuläre Tachykardien nach wie vor die häufigste Ursache für den plötzlichen Herztod sind, sind eine rasche Erkennung und sofortige Behandlung die Eckpfeiler für das Überleben der Patienten.

Klinische Symptome

Die Symptome bei einer weitkomplexen Tachykardie hängen im Wesentlichen von der Kammerfrequenz, der linksventrikulären Funktion und dem Vorhandensein oder Fehlen einer atrioventrikulären Synchronität ab und umfassen Palpitationen, (Beinahe-)Synkopen, Brustschmerzen und Dyspnoe sowie einen Vorschock.

Grunderkrankungen

Die Anamnese des Patienten kann hilfreich sein, da eine weitkomplexe Tachykardie durch verschiedene Grunderkrankungen des Herzens verursacht werden kann (Tabelle 2). Am häufigsten sind weitkomplexe Tachykardien oder ventrikuläre Tachykardien auf eine koronare Herzkrankheit zurückzuführen. Das Vorliegen von Kardiomyopathien mit oder ohne linksventrikuläre Dysfunktion ist häufig bereits bekannt. Darüber hinaus ist bei Patienten mit Kardiomyopathien und Kanalopathien eine Familienanamnese des plötzlichen Herztods wichtig, da diese vererbten Herzstörungen leider mit einer tödlichen ventrikulären Tachykardie als Erstmanifestation auftreten können. In Fällen mit einem strukturell normalen Herzen ist die Langzeitprognose in der Regel besser.

Table 2:Wide-complex tachycardia: most common underlying cardiac disorders.
Coronary artery disease
Acute coronary syndrome / early after myocardial infarction / scar
Left ventricular dysfunction
With or without heart failure
Cardiomyopathies
Hypertrophic cardiomyopathy / dilated cardiomyopathy
Arrhythmogenic right ventricular cardiomyopathy
Channelopathies
Long QT syndrome / short QT syndrome / Brugada syndrome
Catecholaminergic polymorphic ventricular tachycardia
Congenital heart disease
Valvular heart disease
Inflammatory and rheumatic heart disease
Structural normal heart
Toxic / metabolic

Morphology of the wide-complex ­tachycardia

The morphology of the tachycardia also give hints concerning the origin. Wenn eine weitkomplexe Tachykardie monomorph ist, kann ihr Ursprung eine ventrikuläre Tachykardie in einem strukturell anormalen Herzen sein, am häufigsten eine Narbenreentry bei koronarer Herzkrankheit oder Kardiomyopathien wie hypertrophe oder dilatative Kardiomyopathie oder arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie (Tabelle 2). Bei polymorphen weitkomplexen Tachykardien muss zunächst das QT-Intervall analysiert werden. Ist es normal (cave: die Bazzet-Formel ist für die Korrektur des QT-Intervalls bei Tachykardie nicht gültig), sollte eine Ischämie oder ein Elektrolyt-Ungleichgewicht in Betracht gezogen werden. Die Torsade-des-Pointes-Tachykardie entsteht durch eine Verlängerung des QT-Intervalls und wird durch ein vererbtes langes QT-Syndrom, Medikamente, Vergiftungen oder ein Elektrolyt-Ungleichgewicht ausgelöst, um die häufigsten Ursachen zu nennen.

Ventrikuläre oder supraventrikuläre Tachykardie?

Regelmäßige weitkomplexe Tachykardien können entweder ventrikuläre Tachykardien oder supraventrikuläre Tachykardien sein. Ventrikuläre Tachykardien haben ihren Ursprung im linken Ventrikel, dem linken ventrikulären Ausflusstrakt, dem rechten Ventrikel oder dem rechten ventrikulären Ausflusstrakt. Im Gegensatz dazu entsteht eine breitkomplexe supraventrikuläre Tachykardie durch eine Leitungsstörung im Schenkelblock oder seltener in einem akzessorischen Bündel (Wolff-Parkinson-White-Syndrom).

Klinische Symptome sind für die Unterscheidung zwischen ventrikulärer Tachykardie und supraventrikulärer Tachykardie nicht zuverlässig. Das Alter des Patienten kann hilfreich sein: je älter der Patient, desto wahrscheinlicher ist eine ventrikuläre Tachykardie. Die Hämodynamik, wie in den beiden obigen Beispielen gezeigt, ist kein zuverlässiger Marker. Dagegen kann die kardiovaskuläre Vorgeschichte des Patienten hilfreich sein: Wenn beispielsweise eine ischämische oder strukturelle Herzerkrankung, ein früherer Myokardinfarkt, eine kongestive Herzinsuffizienz oder ein plötzlicher Herztod in der Familie bekannt sind, ist eine ventrikuläre Tachykardie wahrscheinlicher als eine supraventrikuläre Tachykardie. Bei einer supraventrikulären Tachykardie mit Aberration zeigen frühere EKGs häufig ein Schenkelblockmuster mit einer Morphologie, die mit der einer weitkomplexen Tachykardie identisch ist, oder Hinweise auf ein Wolff-Parkinson-White-Syndrom (kurzes PQ-Intervall, Delta-Welle), und in der Anamnese des Patienten finden sich häufig wiederkehrende paroxysmale Tachykardien mit plötzlichem Beginn und Beendigung durch vagale Manöver oder Adenosin.

Um eine ventrikuläre Tachykardie eindeutig von einer supraventrikulären Tachykardie abzugrenzen, sollten daher zu Beginn immer die oben genannten Kriterien und Algorithmen angewendet werden.

Behandlung einer weitkomplexen Tachykardie

Tachykardie mit Puls

Die ersten Schritte sind die Aufrechterhaltung der Atemwege des Patienten, ggf. mit Atemunterstützung, die Überwachung des Herzrhythmus, die Überwachung des Blutdrucks und der Oximetrie sowie die Anlage eines intravenösen Zugangs. Wann immer möglich, sollte ein 12-Kanal-EKG aufgezeichnet werden, und reversible Ursachen, wie z. B. ein Elektrolyt-Ungleichgewicht, sollten erkannt und behandelt werden.

Bei Tachykardie, die Hypotonie, einen akut veränderten mentalen Status, Anzeichen von Schock, ischämischen Brustbeschwerden oder akutem Herzversagen verursacht, wird eine sofortige synchronisierte Kardioversion versucht. Eine Sedierung ist erforderlich. Adenosin kann in Betracht gezogen werden, wenn ein schmaler QRS-Komplex vorliegt.

Wenn eine breitkomplexe Tachykardie unregelmäßig ist, kann es sich um eine polymorphe ventrikuläre Tachykardie wie eine Torsade des pointes handeln, bei der eine sofortige intravenöse Verabreichung von 2 g Magnesium über 10 Minuten erforderlich ist, während die Bereitschaft zur Defibrillation gegeben ist. Bei Vorhofflimmern mit Schenkelblock, das eine unregelmäßige breitkomplexe Tachykardie verursacht, wird die gleiche Behandlung wie bei der kleinkomplexen Tachykardie empfohlen.

Bei stabiler und regelmäßiger breitkomplexer Tachykardie, wenn sie ventrikulär ist, ist Amiodaron 2 × 150 mg intravenös über 20-60 Minuten eine sichere Behandlung der Wahl. Bei einer bereits bekannten linksventrikulären faszikulären Kammertachykardie sind Verapamil und ein Betablocker die Mittel der ersten Wahl. Liegt eine zuvor bestätigte supraventrikuläre Tachykardie mit Schenkelblock vor, kann Adenosin wie bei der Behandlung regelmäßiger kleinkomplexer Tachykardien gegeben werden. Bei Trägern eines implantierbaren Kardioverter-Defibrillators mit langsamen ventrikulären Tachykardien sollte eine Überstimulation mit dem Gerät versucht werden.

Tachykardie ohne Puls

Bei Tachykardie ohne Puls ist eine erweiterte Herz-Lungen-Wiederbelebung obligatorisch: Beginnen Sie mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung (HLW), beginnend mit Herzdruckmassage und einem Verhältnis von Kompression zu Beatmung von 30:2. Wenn der Defibrillator eintrifft, setzen Sie die Herzdruckmassage fort, während Sie die Defibrillationselektroden anlegen. Bei schockbaren Rhythmen geben Sie einen Schock mit dem Defibrillator und setzen die HLW gemäß den Leitlinien fort.

Wenn eine weitkomplexe Tachykardie in einen Sinusrhythmus übergeht, hilft ein 12-Kanal-EKG bei der Ermittlung der zugrunde liegenden Ursache. Nach den gängigen Leitlinien sollte die weitere Diagnostik bei Patienten mit anhaltenden ventrikulären Tachykardien im Herzkatheterlabor, auf der Brustschmerzstation oder auf der Intensivstation durchgeführt werden.

Schlussfolgerung

In der Notfallsituation sollte eine weitkomplexe Tachykardie bis zum Beweis des Gegenteils immer als ventrikuläre Tachykardie angesehen werden, da eine Behandlung sofort eingeleitet werden muss, um eine Entartung in Kammerflimmern zu vermeiden.

Die Brugada-Kriterien und der Vereckei-Algorithmus sind hilfreich für eine korrekte EKG-Analyse, und die rasche Behandlung von stabilen und instabilen ventrikulären Tachykardien basiert auf den gängigen ERC- und ACLS-Algorithmen.