Schmerzmechanismen

Originalherausgeberin – Tiara Mardosas

Topmitwirkende – Tiara Mardosas, George Prudden, Kim Jackson, Rachael Lowe und Scott Buxton

Schmerz: Allgemeiner Überblick

Die am weitesten akzeptierte und aktuelle Definition von Schmerz, die von der International Association for the Study of Pain (IASP) aufgestellt wurde, lautet: „Eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verbunden ist oder dieser ähnelt.“ Obwohl mehrere theoretische Rahmen vorgeschlagen wurden, um die physiologischen Grundlagen des Schmerzes zu erklären, ist es keiner einzigen Theorie gelungen, alle Aspekte der Schmerzwahrnehmung in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Zu den vier einflussreichsten Theorien der Schmerzwahrnehmung gehören die Spezifitäts-, Intensitäts-, Muster- und Gate-Control-Theorien des Schmerzes. Melzack und Casey beschrieben 1968 den Schmerz jedoch als mehrdimensional, wobei die Dimensionen nicht unabhängig, sondern interaktiv sind. Zu den Dimensionen gehören sensorisch-diskriminierende, affektiv-motivationale und kognitiv-bewertende Komponenten.

Schmerzmechanismen

Die Bestimmung der plausibelsten Schmerzmechanismen ist bei der klinischen Beurteilung von entscheidender Bedeutung, da sie als Leitfaden für die Bestimmung der geeignetsten Behandlung(en) für einen Patienten dienen kann. Daher wurden anhand einer von Experten im Konsens erstellten Liste klinischer Indikatoren Kriterien festgelegt, auf die sich Kliniker bei ihren Entscheidungen über geeignete Klassifizierungen stützen können. Die nachstehenden Tabellen wurden von Smart et al. (2010) übernommen, die Schmerzmechanismen als „nozizeptiv“, „peripher neuropathisch“ und „zentral“ klassifizierten und sowohl subjektive als auch objektive klinische Indikatoren für jeden dieser Mechanismen aufzeigten. Daher dienen diese Tabellen als Ergänzung zum aktuellen Wissensstand und als Orientierungshilfe für die klinische Entscheidungsfindung bei der Bestimmung der am besten geeigneten Schmerzmechanismen.

Außerdem kann die Kenntnis der Faktoren, die Schmerzen und Schmerzwahrnehmung verändern können, bei der Bestimmung des am besten geeigneten Schmerzmechanismus für einen Patienten helfen. Im Folgenden werden Risikofaktoren genannt, die Schmerzen und Schmerzwahrnehmung verändern können:

  • Biomedizinische Faktoren
  • Psychosoziale oder verhaltensbedingte Faktoren
  • Soziale und wirtschaftliche Faktoren
  • Berufliche/arbeitsbezogene Faktoren

Nozizeptiver Schmerzmechanismus

Nozizeptiver Schmerz ist verbunden mit der Aktivierung peripherer rezeptiver Terminals primärer afferenter Neuronen als Reaktion auf schädliche chemische (entzündliche), mechanische oder ischämische Reize.

Subjektiv

  • Klarer, proportionaler mechanischer/anatomischer Charakter zu verschlimmernden und lindernden Faktoren
  • Schmerz in Verbindung mit und im Verhältnis zu einem Trauma oder einem pathologischen Prozess (entzündlich-nozizeptiv), oder Bewegungs-/Haltungsstörungen (ischämisch nozizeptiv)
  • Schmerzen lokalisiert auf den Bereich der Verletzung/Funktionsstörung (mit/ohne somatischen Bezug)
  • In der Regel schnell abklingend oder in Übereinstimmung mit den erwarteten Heilungszeiten des Gewebes/der Pathologie abklingend
  • Reagiert auf einfache NSAIDs/Analgetika
  • In der Regel intermittierend und scharf bei Bewegung/mechanischer Provokation; kann ein konstanter dumpfer Schmerz oder ein Pochen in Ruhe sein
  • Schmerzen in Verbindung mit anderen Entzündungssymptomen (d. h.e., Schwellung, Rötung, Hitze) (entzündlich nozizeptiv)
  • Fehlen von neurologischen Symptomen
  • Schmerzen, die erst kürzlich aufgetreten sind
  • Klare Tages- oder 24-Stunden-Muster der Symptome (z. B. Morgensteifigkeit)
  • Fehlen von oder nicht signifikant assoziiert mit maladaptiven psychosozialen Faktoren (d. h., negative Emotionen, geringe Selbstwirksamkeit)

Ziel

  • Klare, konsistente und proportionale mechanische/anatomische Muster der Schmerzwiedergabe bei Bewegung/mechanischen Tests des Zielgewebes
  • Lokalisierte Schmerzen bei Palpation
  • Abwesenheit von oder erwartete/proportionale Befunde von (primärer und/oder sekundärer) Hyperalgesie und/oder Allodynie
  • Antalgische (d.h., schmerzlindernde Haltungen/Bewegungsmuster
  • Vorhandensein anderer kardinaler Entzündungszeichen (Schwellung, Rötung, Hitze)
  • Abwesenheit neurologischer Zeichen; negative neurodynamische Tests (d.h., SLR, Brachialplexus-Spannungstest, Tinel-Test)
  • Abwesenheit von maladaptivem Schmerzverhalten

Mechanismus des peripheren neuropathischen Schmerzes

Peripherer neuropathischer Schmerz wird durch eine primäre Läsion oder Dysfunktion im peripheren Nervensystem (PNS) ausgelöst oder verursacht und beinhaltet zahlreiche pathophysiologische Mechanismen, die mit einer veränderten Nervenfunktion und -reaktivität einhergehen. Zu den Mechanismen gehören Übererregbarkeit und abnorme Impulserzeugung sowie mechanische, thermische und chemische Empfindlichkeit.

Subjektiv

  • Schmerzen, die als brennend, einschießend, stechend, schmerzend oder stromschlagartig beschrieben werden
  • Vorgeschichte einer Nervenverletzung, Pathologie oder mechanischen Beeinträchtigung
  • Schmerzen in Verbindung mit anderen neurologischen Symptomen (z. B., Nadelstiche, Taubheit, Schwäche)
  • Schmerzen, die sich auf eine dermatomale oder kutane Verteilung beziehen
  • Schmerzen, die weniger auf einfache NSAIDs/Analgetika ansprechen und/oder besser auf Antiepileptika (z. B., Neurontin, Lyrica) oder Antidepressiva (z.B. Amitriptylin) an
  • Schmerzen mit hohem Schweregrad und Reizbarkeit (d.h., sie sind leicht provozierbar und brauchen länger, um sich zu beruhigen)
  • Mechanisches Muster bei verschlimmernden und lindernden Faktoren, die Aktivitäten/Haltungen einschließen, die mit Bewegung, Belastung oder Kompression des Nervengewebes verbunden sind
  • Schmerzen in Verbindung mit anderen Dysästhesien (d.h., Kriechen, Elektrizität, Schweregefühl)
  • Berichte über spontane (d. h. reizunabhängige) Schmerzen und/oder paroxysmale Schmerzen (d. h., plötzliches Wiederauftreten und Verstärkung von Schmerzen
  • Latente Schmerzen als Reaktion auf Bewegung/mechanische Belastungen
  • Schmerzen, die nachts schlimmer sind und mit Schlafstörungen einhergehen
  • Schmerzen, die mit psychologischen Affekten einhergehen (d.h. Kummer, Stimmungsstörungen)

Objektiv

  • Schmerz/Symptom-Provokation mit mechanischen/Bewegungs-Tests (d.h., aktiv/passiv, neurodynamisch), die das Nervengewebe bewegen/belasten/komprimieren
  • Schmerz/Symptom-Provokation bei Palpation des relevanten Nervengewebes
  • Positive neurologische Befunde (einschließlich veränderter Reflexe, Empfindung und Muskelkraft in einer dermatomalen/myotomalen oder kutanen Nervenverteilung)
  • Antalgische Körperhaltung der betroffenen Gliedmaße/des betroffenen Körperteils
  • Positive Befunde von Hyperalgesie (primär oder sekundär) und/oder Allodynie und/oder Hyperpathie innerhalb der Schmerzverteilung
  • Latenter Schmerz als Reaktion auf Bewegung/mechanische Tests
  • Klinische Untersuchungen, die eine periphere neuropathische Quelle unterstützen (d. h.e., MRT, CT, Nervenleitungstests)
  • Anzeichen einer autonomen Dysfunktion (d. h. trophische Veränderungen)

Anmerkung: Unterstützende klinische Untersuchungen (d. h., MRT) sind unter Umständen nicht erforderlich, damit Ärzte Schmerzen als vorwiegend „peripher neuropathisch“ einstufen können

Zentraler Schmerzmechanismus

Zentraler Schmerz ist ein Schmerz, der durch eine primäre Läsion oder Dysfunktion im zentralen Nervensystem (ZNS) ausgelöst oder verursacht wird.

Subjektiv

  • Unverhältnismäßiges, nicht-mechanisches, unvorhersehbares Muster der Schmerzprovokation als Reaktion auf mehrere/nicht-spezifische verschlimmernde/lindernde Faktoren
  • Schmerz, der über die erwartete Heilungszeit des Gewebes/der Pathologie hinaus andauert
  • Schmerz, der in keinem Verhältnis zu Art und Ausmaß der Verletzung oder Pathologie steht
  • Weit verbreitet, nicht anatomische Verteilung der Schmerzen
  • Vorgeschichte erfolgloser Interventionen (medizinisch/chirurgisch/therapeutisch)
  • Starker Zusammenhang mit maladaptiven psychosozialen Faktoren (d. h.e., negative Emotionen, geringe Selbstwirksamkeit, maladaptive Überzeugungen und durch Familie/Arbeit/Sozialleben verändertes Schmerzverhalten, medizinische Konflikte)
  • Nicht auf NSAIDs ansprechend und/oder eher auf antiepileptische oder antidepressive Medikamente
  • Berichte über spontane (d. h., Stimulus-unabhängigen) Schmerzen und/oder paroxysmalen Schmerzen (d.h. plötzliche Wiederkehr und Verstärkung von Schmerzen)
  • Schmerzen in Verbindung mit einem hohen Grad an funktioneller Behinderung
  • Konstantere/unaufhörliche Schmerzen
  • Nachtschmerzen/gestörter Schlaf
  • Schmerzen in Verbindung mit anderen Dysästhesien (d.h., Brennen, Kälte, Krabbeln)
  • Schmerzen von hoher Intensität und Reizbarkeit (d.h. leicht provozierbar, lange Zeit, um sich zu beruhigen)
  • Latente Schmerzen als Reaktion auf Bewegung/mechanische Belastungen, ADLs
  • Schmerzen in Verbindung mit Symptomen einer Dysfunktion des autonomen Nervensystems (Hautverfärbung, übermäßiges Schwitzen, trophische Veränderungen)
  • Vorgeschichte einer ZNS-Störung/Läsion (d.h., SCI)

Objektiv

  • Disproportionale, inkonsistente, nicht-mechanische/nicht-anatomische Muster der Schmerzprovokation als Reaktion auf Bewegung/mechanische Tests
  • Positive Befunde von Hyperalgesie (primär, sekundär) und/oder Allodynie und/oder Hyperpathie innerhalb der Schmerzverteilung
  • Diffuse/nicht-anatomische Bereiche von Schmerzen/Empfindlichkeit bei der Palpation
  • Positive Identifizierung verschiedener psychosozialer Faktoren (d. h.e., Katastrophisierung, Angstvermeidungsverhalten, Distress)
  • Nichtvorhandensein von Anzeichen einer Gewebeverletzung/-pathologie
  • Latenter Schmerz als Reaktion auf Bewegung/mechanische Tests
  • Muskelatrophie
  • Anzeichen einer Dysfunktion des autonomen Nervensystems (d.h., Hautverfärbung, Schwitzen)
  • Antalgische (d.h. schmerzlindernde) Haltungen/Bewegungsmuster

Klinische Vignetten

Die folgenden klinischen Vignetten sollen die obigen Informationen ergänzen und zum Nachdenken über plausible Schmerzmechanismen anregen.

Fall Nr. 1: Patientin A ist eine 58-jährige, pensionierte Gymnasiallehrerin. Vor ca. 1 Monat traten plötzlich Schmerzen im unteren Rückenbereich auf, nachdem sie eine Saison Curling gespielt hatte, die sich beim Gehen verschlimmerten. Patientin A stellt sich mit rechtsseitigen Kreuzschmerzen (P1) vor, die ein konstanter, dumpfer Schmerz sind, 7-8/10, und mit Schmerzen im vorderen Bein, die oberhalb des rechten Knies (P2) aufhören und intermittierend für ~10-30 Minuten auftreten, bewertet mit 2/10, mit einem gelegentlichen brennenden Schmerz oberhalb des Knies. P1 verschlimmert sich beim Curling mit dem rechten Knie als Führungsbein, beim Gehen >15 Minuten, beim Autofahren >30 Minuten und beim Treppensteigen. P2 wird durch Sitzen auf harten Oberflächen >30 Minuten und anhaltende Beugung verschlimmert. Husten und Niesen verschlimmern es nicht, und P1 ist am Ende des Tages schlimmer. Der allgemeine Gesundheitszustand ist unauffällig. Patient A hatte vor etwa 10 Jahren eine frühere Verletzung des unteren Rückens, die behandelt wurde und gut ausgeheilt ist. Was ist der vorherrschende Schmerzmechanismus?

Fall #2: Patient B ist ein 30-jähriger Mann, Buchhalter. Er klagt seit 2 Tagen über eine plötzlich auftretende Unfähigkeit, den Hals nach rechts zu drehen und den Nacken nach rechts zu beugen. Bei der Beobachtung ruht der Kopf von Patient B in einer Position mit leichter L-Drehung und L-Seitenbeugung. Patient B berichtet von geringen Schmerzen (2-3/10), die nur auftreten, wenn er versucht, den Kopf nach rechts zu drehen, ansonsten bleibt die Bewegung „stecken“. Patient B verneint Taubheitsgefühle, Kribbeln oder brennende Schmerzen, und NSAIDs sind unwirksam. Patientin B berichtet, dass Wärme und sanfte Massagen die Symptome lindern. Objektive Befunde zeigen, dass nur die rechten PPIVMs und PPAVMs einen verminderten Bewegungsumfang haben und blockiert sind. Alle anderen Mobilisierungen der Halswirbelsäule sind WNL. Was ist der dominante Schmerzmechanismus?

Fall Nr. 3: Patientin C ist eine 25-jährige Studentin. Die Vorgeschichte der aktuellen Beschwerden ist ein MVA vor 40 Tagen auf dem Weg zur Schule. Patientin C wurde von hinten angefahren, bremste mit dem rechten Fuß ab, der Airbag wurde aufgeblasen, sie wurde aus der Notaufnahme entlassen und bekam Bettruhe. Seitdem hat Patientin C 6 Physiotherapien absolviert, ohne dass eine Besserung eingetreten wäre, und die Nackenschmerzen halten an. P1 ist links C2-7 und der obere Trapezius, bewertet mit 3-9/10, und der Schmerz variiert von einem dumpfen Schmerz bis hin zu einem stechenden Schmerz mit gelegentlichen Nadelstichen, abhängig von der Nackenposition. P1 wird durch Sitzen und Gehen > 30 Minuten und Drehen nach links verschlimmert. P1 stört gelegentlich den Schlaf, insbesondere wenn man sich im Bett umdreht, und Husten/Niesen verstärkt den Schmerz nicht. P1 wird manchmal durch Wärme und Dehnung gelindert. NSAIDs haben keine Wirkung. Das Röntgenbild am Tag des MVA ist negativ, die Zeichen der Cauda equina, der Arteria vertebralis und des Rückenmarks sind negativ. Der allgemeine Gesundheitszustand ist im Allgemeinen gut. Leichte Verstauchungen und Zerrungen beim Sport, die jedoch nie behandelt werden mussten, und kein früheres MVA. Patient C äußert sich besorgt über seine Angst vor dem Autofahren und ist seit dem Unfall nicht mehr Auto gefahren. Patientin C berichtet auch über eine zunehmende Sensibilisierung in ihren unteren Extremitäten. Was ist der vorherrschende Schmerzmechanismus?

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